Jüdisches Archivwesen
Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 45
Frank M. Bischoff, Peter Honigmann (Hrsg.)
Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden
zugleich 10. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg
Einleitung
Jüdisches Archivwesen im eigentlichen Sinne des Wortes als eine auf die Erhaltung und Erschließung des in allen Bereichen des jüdischen Lebens entstandenen Schriftguts gerichtete institutionelle Tätigkeit nahm in Deutschland mit der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden am 1. Oktober 1905 seinen Anfang. Dieses Datum jährte sich im Herbst 2005 zum hundertsten Mal. Der Zentralrat der Juden in Deutschland und das in seiner Trägerschaft 1987 in Heidelberg entstandene Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland nahmen dieses Jubiläum zum Anlass für eine fachliche Selbstbesinnung sowohl im historischen Kontext als auch im internationalen Vergleich, wobei sie von der Archivschule Marburg unterstützt wurden, die durch Aufnahme in die Reihe ihrer Archivwissenschaftlichen Kolloquien den archivpolitischen und archivfachlichen Stellenwert der Veranstaltung unterstreichen wollte.
Früher noch als in Deutschland begann man in den USA mit der systematischen Suche und Archivierung von jüdischem Quellenmaterial. Die 1892 ins Leben gerufene American Jewish Historical Society schuf einen organisatorischen Rahmen sowohl für die Archivierung als auch für die Auswertung und Publikation von Quellen zur Geschichte der Juden in Amerika. In Europa wie auch in Amerika hat sich im zurückliegenden Jahrhundert, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dann mit zunehmender Intensität, eine organisatorisch und institutionell recht vielgestaltige Tätigkeit zur Sicherung und Nutzbarmachung des für die jüdische Historiographie relevanten Quellenmaterials entfaltet. Abgesehen von wenigen Publikationen zur Geschichte einzelner Sammlungen, Institutionen und Persönlichkeiten ist die Selbstreflektion des Fachgebiets Jüdisches Archivwesen über vereinzelte Ansätze bisher nicht hinausgekommen. Die Lang-samkeit des Erkenntnisfortschritts hängt nicht nur mit dem in Deutschland durch die NS-Zeit bewirkten Kontinuitätsbruch zusammen. Es gibt auch Gründe, die in der Sache selbst liegen. Der jüdische Zweig des Archivwesens ist relativ jung und von vergleichsweise geringem Umfang. Die in diesem Bereich tätigen Personen sind hinsichtlich der spezifischen Aspekte ihrer Beschäftigung weitgehend isoliert voneinander und fühlen sich auch kaum einer historischen Tradition zugehörig. Eine Kommunikationsgemeinschaft finden sie eher in den jeweils nationalstaatlich organisierten Archivarsverbänden als in Zusammenschlüssen, die von der jüdischen Besonderheit ihrer Aufgaben geprägt sind. Dieses Defizit an historischer Besinnung und grenzüberschreitender Kommunikation wenigstens im Ansatz zu beheben, schien ein wissenschaftliches Kolloquium ein geeigneter und im Sinne der fachlichen Konturierung sinnvolles Unterfangen zu sein. Als Leitlinie diente dabei stets die Frage nach den für das Jüdische Archivwesen spezifischen Entwicklungen und Merkmalen.
Jüdische Archive unterscheiden sich von anderen zunächst hinsichtlich ihrer Organisationsformen. Wenn es um die Verwahrung der innerjüdisch entstandenen Quellen geht, so äußern sich die spezifischen Probleme in einer stets latenten Standortdebatte. Am Ort der Entstehung von Schriftgut, sind in der Regel nicht die Mittel für eine fachlich korrekte Archivierung vorhanden. Die Konzentration der Kräfte und die Schaffung von Zentralarchiven geraten auf der anderen Seite regelmäßig mit den orts- bzw. heimatgeschichtlich orientierten Auswertungsvorhaben in Konflikt. Aber auch die eher bestandsübergreifenden Fragestellungen der wissenschaftlichen Historiographie üben erheblichen Einfluss auf die Standortfrage aus. Im Laufe der Zeit haben sich im wesentlichen drei Typen von jüdischen Archiven herausgebildet, die in der dafür vorgesehenen Sektion vorgestellt werden, nämlich
- solche, die auf lokaler oder regionaler Ebene arbeiten (am Beispiel von Philadelphia),
- solche die sich als Zentren für alle jüdischen Gemeinden, Verbände und Einrichtungen eines
Nationalstaats verstehen (am Beispiel des Gesamtarchivs),
- und solche, die weltweit operieren (am Beispiel der Central Archives in Jerusalem).
Jüdische Archive unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der in ihre Obhut gelangenden Quellen. Erinnert sei hier nur an den besonderen Stellenwert, den in der jüngsten Vergangenheit Zeitzeugenberichte und Grabinschriften erlangt haben. Während zu den Zeitzeugenberichten ein Beitrag von Feliks Tych aus Warschau in den vorliegenden Band aufgenommen werden konnte, musste auf den ursprünglich geplanten Beitrag über den Quellenwert von jüdischen Grabinschriften leider verzichtet werden.
Auch hinsichtlich der von jüdischen Archiveinrichtungen angewandten Arbeitsmethoden und –techniken lassen sich einige Besonderheiten oder zumindest Akzentuierungen ausmachen. Im Unterschied zum öffentlichen Archivwesen arbeiten jüdische Archivare in einem weitgehend ungeregelten Raum. Es gibt keine klar definierten Zuständigkeiten. Und es gibt auch keine Abgabevorschriften für die jüdischen Gemeinden, Verbände und Einrichtungen. Wie sehr die Überlieferungsbildung unter diesen Umstände auf die Arbeit mit Depositalverträgen angewiesen ist, und welche Konsequenzen dieses rechtliche Mittel für die nachfolgende Kommunikation mit den Benutzern im Zeitalter von Datenschutz hat, führt Peter Honigmann nachdrücklich vor Augen. Aubrey Pomerance andererseits weist auf die neue Rolle von Museen bei der Quellensammlung hin. Aufgrund ihrer herausgehobenen öffentlichen Sichtbarkeit haben sie gegenüber Privatpersonen einen erheblichen Imagevorteil, der spürbar die Übernahme von Familienpapieren erleichtert.
Aber auch die Mikrofilmtechnik ist heute ein gängiges Mittel, um spezifisch jüdische Archivprobleme zu lösen. Mit der Verlagerung des intellektuellen und demographischen Schwerpunkts des jüdischen Volkes nach den USA und Israel manifestierte sich nach 1945 der Wunsch, die Quellen oder wenigstens umfangreiche Kopien in die neuen Zentren zu bringen. Diese Problematik bildet den Hintergrund der Vorträge von Jürgen Sielemann und Marek Web in der Sektion Displaced Archives. Einmal geht es um die aus Israel geltend gemachten Ansprüche auf das in Hamburg gerettete Archiv der Vorkriegsgemeinde. Und zum andern um die Sammeltätigkeit des während des Krieges von Wilna nach New York umgesiedelten YIVO-Instituts im Nachkriegseuropa. Jüngstes Beispiel dieser Tendenz ist das umfangreiche Verfilmungsprogramm des Holocaust Museums in Washington, worüber Henry Mayer berichtete. Andere Quellen wiederum sind im Zuge von Krieg und Verfolgung zum Teil heute noch in fremdem Besitz, darunter etwa die recht umfangreichen deutsch-jüdischen Bestände in einem Moskauer Sonderarchiv, was Gegenstand der Ermittlungen von Elijahu Tarantul ist. Manches ist auch nur noch als Filmkopie vorhanden, wie z. B. die vom Reichssippenamt eingezogenen, auf Juden bezüglichen Personenstandsregister. Sie wurden Anfang der 40er Jahre von der Firma Gatermann verfilmt. Seit Kriegsende müssen die Originale als verloren gelten. Über die sehr lange und komplizierte Nachkriegsgeschichte der Verwaltung und Nutzbarmachung dieser Gatermann-Filme hat Hartmut Heinemann in der Sektion Spezielle Quellengruppen einen kenntnisreichen Überblick geliefert.
Die angedeuteten Entwicklungen und Techniken sind auch in anderen Bereichen des Archivwesens zu finden, im jüdischen Bereich sind sie aber stärker ausgeprägt, weil sie spezifischen Problemen entsprechen. Auch auf die Spezialinventare wäre in diesem Zusammenhang hinzuweisen, wovon noch die Rede sein wird. Wegen der hochgradigen Verstreuung der Benutzer, die inzwischen aus allen Teilen der zivilisierten Welt stammen und Auskünfte aus den Archive auch ohne aufwendige Reisen erhalten möchten, hat schließlich auch die Kommunikation per Internet einen höheren Stellenwert. Die Beiträge von Frank Mecklenburg und Gail T. Reimer lassen sich auch unter diesem Gesichtspunkt lesen.
Bei allen genannten Besonderheiten bleiben die jüdischen Archive jedoch zweifellos Teil der allgemeinen Archivlandschaft. Und so werden die anstehenden Aufgaben in erheblichem Umfang auch im Rahmen staatlicher Programme gefördert. In vielen Bereichen ihrer Tätigkeit arbeiten jüdische Archivare wie andere Archivare, etwa bei der Verzeichnung von Akten oder bei der Anwendung von bestandserhaltenden Verfahren. Die Verbindung mit dem allgemeinen Archivwesen ergibt sich jedoch nicht nur durch die gemeinsam praktizierten Arbeitstechniken, sie ergibt sich zum Teil auch aus der Grundsituation des Jüdischen Archivwesens.
Demgegenüber trägt zur Charakterisierung des Jüdischen trägt nicht nur der Umstand bei, dass Juden als Registraturbildner, Archivare oder Historiker in Erscheinung treten. Ein unabweisbares Differenzierungsmerkmal ist darüber hinaus die Diasporaexistenz der jüdischen Gemeinschaft, deren Lebensspur das Jüdische Archivwesen festzuhalten bemüht ist. Die Ausübung derselben Tätigkeiten im Land Israel gehört nicht zum spezifischen Problemkreis des Jüdischen Archivwesens, es sei denn, dass sie sich auch dort auf die Diaspora bezöge, wie dies bei den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem der Fall ist.
Unter den Bedingungen der Diaspora ist nun stets nach dem Verhältnis der innerjüdischen Überlieferung zu dem Teil der amtlichen Registratur zu fragen, in dem jüdische Lebensäußerungen von den jeweils zuständigen nichtjüdischen Verwaltungen festgehalten wurden. Vor diesem Hintergrund scheint es kein Zufall, dass einige der wichtigsten jüdischen Archivprojekte bei der Inventarisierung von Quellen in öffentlichen Archiven ihren Ausgang nahmen. Dies trifft sowohl auf das 1905 in Berlin gegründete Gesamtarchiv als auch auf das in seiner Nachfolge 1987 in Heidelberg entstandene Zentralarchiv zu. Und bis heute kommt der Erarbeitung von Spezialinventaren eine hervorragende Bedeutung zu, wovon im Rahmen des Kolloquiums drei Referenten berichtet haben, Friedrich Battenberg in Bezug auf mittelalterliche Quellen, Albrecht Eckhardt für solche aus der Neuzeit und schließlich Gail T. Reimer aus Boston für die Gegenwart, indem sie das Jewish Women’s Archive vorstellte, bei dem es sich im Wesentlichen um ein Internet-Projekt handelt.
Manche der angedeuteten Probleme oder Entwicklungslinien werden ganz explizit in einem Vortrag oder in der Überschrift einer Sektion fokussiert. Andere Themen und Fragestellungen sind eher im Hintergrund präsent und durchziehen gleichsam das Programm, ohne dass sie in den Titeln der einzelnen Beiträge hervortreten würden. Die Programmgestaltung folgte einer Vorgehensweise, wie sie etwa bei der Planung eines Handbuchs angewendet würde. Es ging nicht um mögliche Themenangebote von potentiellen Referenten, sondern um die Frage, welche Kernthemen und wichtigen Entwicklungen in eine problemorientierte, exemplarische Übersicht zum Jüdischen Archivwesen gehören. Für diese Fragestellungen wurden dann einschlägig ausgewiesene Kenner wegen eines Beitrags angefragt. So sollte vermieden werden, dass die Referenten nur über ihre eigenen Arbeiten und Institutionen berichten, was inhaltlich und methodisch einerseits zu einer hohen Redundanz der Beiträge und anderseits zu einer Vernachlässigung wichtiger Aspekte hätte führen können.
Gleichwohl wäre es bei gegebener Themenvielfalt vermessen, mit dem Kolloquium und dem vorliegenden Band Vollständigkeit anzustreben. Manchmal wird zu einem großen Themenkomplex nur eine Fallstudie geboten, Manches konnte nur in der Form eines zusammenfassenden Berichts über nationale Erfahrungen dargeboten werden, und Manches musste ausgespart bleiben, darunter z. B. die Ansätze für den Aufbau von Webseitenarchiven oder durchaus notwendige Überlegung zum Umgang mit Materialsammlungen jüdischer Autoren. Das Fehlen von Beiträgen zu den sonst so zentralen Fragen der Bewertung erklärt sich zum Teil aus den besonderen Voraussetzungen jüdischer Archivarbeit. In Europa ist angesichts der zahlreichen Quellenverluste (bis hin zu den sich noch in der Gegenwart fortsetzenden Friedhofsschändungen) und natürlich auch in Anbetracht der an Juden verübten Verbrechen eine Bewertungsdiskussion in Bezug auf jüdisches Quellenmaterial bisher nicht aufgekommen. Jüngere Überlegungen, die hierzu in den USA angestellt wurden, hätten den fachlichen Austausch während des Kolloquiums sicherlich bereichert, mussten aber aus organisatorischen Gründen im letzten Moment ausgespart und somit einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
Die Herausgeber wollten bei der Programmgestaltung wesentlich dem Grundsatz treu bleiben, dass die einzelnen Beiträge charakteristische historische bzw. methodische Probleme oder Entwicklungslinien darstellen, wobei sie natürlich jeweils an spezifische eigene Erfahrungen der Referenten anknüpfen sollten. Eine eher auf Selbstdarstellungen von Institutionen ausgerichtete Veranstaltung sollte vermieden werden. Diese Art der zweifellos nützlichen informellen Kontaktaufnahme wird zum Teil schon bei den jährlichen Zusammenkünften der Arbeitsgemeinschaft Jüdische Sammlungen ermöglicht. Und auch die 1999 in Potsdam vom Moses Mendelssohn Zentrum organisierte Konferenz Preserving Jewish Archives as Part of the European Cultural Heritage ist dem Bedürfnis nach Kommunikation, allgemeiner Information und Netzwerkbildung in hohem Maße entgegen gekommen. Bei dem Marburger Kolloquium stand also im Vordergrund, das archivwissenschaftliche Bemühen um Konturierung des sich langsam mit eigenen Fragestellungen, spezifisch ausgeprägten Methoden und Entwicklungen abzeichnenden Fachgebiets des Jüdischen Archivwesens zu fördern. Vor diesem Hintergrund war die vorliegende Veröffentlichung der Beiträge von Anfang an geplant. Von 22 Vorträgen des ursprünglichen Programms werden nun 19 Beiträge in Druckfassung einem größeren Publikum zugänglich gemacht in der Hoffnung, dass der in Marburg als fruchtbar empfundene internationale fachliche Austausch zum Jüdischen Archivwesen fortgesetzt werden möge.
Zum organisatorischen Gelingen des Kolloquiums haben neben Referenten und Teilnehmern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heidelberger Zentralarchivs und der Archivschule Marburg, darunter die Studierenden des 39. Wissenschaftlichen Kurses und des 42. Fachhochschulkurses, beigetragen. Besonderer Dank gilt namentlich Christa Kieselbach und Eva Blattner. Das Staatsarchiv Marburg hat freundlicherweise den Landgrafensaal als Tagungsraum zur Verfügung gestellt. Die Fritz-Thyssen-Stiftung hat durch Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten für die Referenten die Durchführung der Tagung überhaupt erst ermöglicht. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat das Kolloquium nicht nur als Mitveranstalter unterstützt, sondern auch die Herausgabe der vorliegenden Veröffentlichung mit einem finanziellen Zuschuss gefördert.
Peter Honigmann Frank M. Bischoff
(Zentralarchiv Heidelberg) (Archivschule Marburg)
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Maße und Gewicht: (BxHxT) 148 x 210 x 17mm; 645g
- Sprache: deutsch, englisch
- Erscheinungsjahr: 2007
- Auflage: 1.
- ISBN: 978-3-923833-10-8
- Seiten: 430